Dieser Artikel wurde von unserem Director User Experience & Accessibility-Experten Daniel Ludes verfasst und und am 30.06.2025 auf Medium veröffentlicht.
Die Dimension einer globalen Kundengruppe

(Quellen im Bild 1 & 2)
Wenn wir über Barrierefreiheit sprechen, denken viele an eine kleine Nische. Die Zahlen zeichnen ein völlig anderes Bild:
- Weltweit leben laut der Weltgesundheitsorganisation etwa 2,2 Milliarden Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung, rund 36 Millionen davon sind blind (Quelle 1).
- In der Europäischen Union sind es schätzungsweise 30 Millionen Betroffene (Quelle 3).
- In den USA haben über 7 Millionen Menschen eine starke Sehbeeinträchtigung (Quelle 4).
Diese Zahlen repräsentieren nicht nur Menschen, sondern Konsument:innen. Eine Kundengruppe mit Bedürfnissen, Wünschen und einer erheblichen Kaufkraft, die aktiv nach Produkten und Dienstleistungen sucht – von Alltagsgütern über Software bis hin zu Luxusartikeln. Wer seine digitalen Produkte nicht barrierefrei gestaltet, verzichtet aktiv auf einen Milliardenmarkt.
Die Brücke zur digitalen Welt: Der Screenreader

Für Menschen wie Anna ist ein Screenreader das wichtigste Werkzeug für die Teilhabe am digitalen Leben. Diese Software übersetzt Textinhalte von Webseiten, PDFs, E-Mails oder dem Betriebssystem in gesprochene Sprache oder in Brailleschrift auf einer Braillezeile. Ein Screenreader ist das Auge im digitalen Raum.
Doch die Effektivität dieses Werkzeugs hängt zu 100 % von der Qualität des digitalen Fundaments ab. Hier sind die entscheidenden Punkte, an denen viele Unternehmen scheitern:
Fehlende Struktur
Ein Screenreader nutzt dieselbe Stimme, unabhängig davon, ob ein Text riesig, fett oder rot ist. Visuelle Betonung ist bedeutungslos. Die Struktur muss aus dem Code kommen – durch Überschriften (<h1>, <h2>, etc.), die eine klare Hierarchie schaffen.
Keine Semantik
Ein Screenreader kann keine Bedeutung aus visuellem Design ableiten. Er verlässt sich auf sauberen, semantischen HTML-Code. Ein Link muss als Link (<a>) und ein Button als Button (<button>) programmiert sein. Eine Aneinanderreihung von <div>-Elementen, die wie eine Navigation aussieht, ist für einen Screenreader nur ein Chaos ohne Kontext.
Unsichtbare Inhalte
Bilder, Infografiken und Videos sind ohne textliche Alternativen (sogenannte Alt-Texte oder Transkripte) für den Screenreader unsichtbar. Die Information existiert schlichtweg nicht.
Fehlende Beschriftung
Ein Textfeld ohne klare Beschriftung (<label>) ist für einen Screenreader ein Mysterium. "Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein" – wenn "hier" nicht programmatisch mit dem Eingabefeld verknüpft ist, weiß der/die Nutzer:in nicht, wohin. Der Kauf- oder Anmeldevorgang bricht ab.
Unklare Linktexte
Links mit Texten wie "Hier klicken", "Mehr erfahren" oder "Jetzt ansehen" sind ein Albtraum. Nutzer:innen von Screenreadern navigieren oft, indem sie von Link zu Link springen. Eine Liste, die nur aus "Hier klicken" besteht, ist nutzlos. Aussagekräftige Linktexte wie "Weitere Informationen zum Kaffeevollautomaten X" sind essenziell.
Die Navigation erfolgt primär über die Tastatur oder spezielle Touch-Gesten auf dem Smartphone. Schlecht strukturierte Formulare, eine unlogische Navigationsreihenfolge oder nicht erreichbare Bedienelemente für Aktionen wie Drag-and-Drop machen eine Seite unbenutzbar.
Der Business Case: Mehr als nur gutes Karma

Die Investition in digitale Barrierefreiheit ist keine reine Wohltätigkeit. Sie ist eine fundierte Geschäftsstrategie mit messbarem Return on Investment.
Markterschließung und Umsatzsteigerung: Der offensichtlichste Vorteil. Unternehmen, die barrierefreie Erlebnisse schaffen, gewinnen Kunden, die die Konkurrenz ignoriert. Das betrifft nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch ihr Umfeld – Familie und Freunde, die ebenfalls loyale Kunden werden können (Quelle 5).
Verbesserte SEO: Suchmaschinen wie Google lieben klar strukturierte, semantische Webseiten mit Alt-Texten und logischen Überschriften. Barrierefreiheit und Suchmaschinenoptimierung gehen Hand in Hand. Zudem profitieren alle Nutzer von einer durchdachten Struktur. Dieses Phänomen nennt man den "Curb-Cut-Effekt": Eine für Rollstuhlfahrer:innen konzipierte Bordsteinabsenkung hilft auch Eltern mit Kinderwagen, Reisenden mit Rollkoffern und Fahrradfahrer:innen (Quelle 6).
Stärkung der Marke: Inklusion ist ein starkes Markenversprechen. Unternehmen, die zeigen, dass ihnen alle Kund:innen wichtig sind, bauen Vertrauen und eine positive Reputation auf. Dies wird zu einem immer wichtigeren Differenzierungsmerkmal in gesättigten Märkten (Quelle 7).
Rechtliche Konformität und Risikominimierung: Mit dem European Accessibility Act (EAA) werden digitale Barrierefreiheitsstandards für viele Produkte und Dienstleistungen in der EU ab 2025 zur Pflicht. Wer jetzt handelt, vermeidet nicht nur empfindliche Strafen und teure Nachbesserungen, sondern sichert sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil (Quelle 8).
So machst du deine Website barrierefrei

Der Weg zur Barrierefreiheit muss nicht überwältigend sein. Beginne mit den Grundlagen:
Nutze semantisches HTML: Verwende HTML-Elemente für ihren vorgesehenen Zweck.
Teste mit der Tastatur: Navigiere durch Deine gesamte Webseite nur mit der Tab-Taste. Erreichst du jedes interaktive Element in einer logischen Reihenfolge?
Beschrifte alles: Jedes Formularfeld braucht ein <label>, jedes aussagekräftige Bild einen alt-Text.
Schaffe klare Strukturen: Nutze Überschriften-Tags (<h1> bis <h6>) korrekt, um Inhalte zu gliedern.
Vermeide CAPTCHAs: Diese visuellen Rätsel sind oft unüberwindbar. Es gibt zugänglichere Alternativen.
Stelle die entscheidende Frage: Könnte jemand diese Seite nutzen, ohne den Bildschirm zu sehen?
Fazit
Kehren wir zu Anna und ihrer Kaffeemaschine zurück. Wäre die Webseite des Herstellers barrierefrei gewesen, hätte ihr Screenreader sie mühelos durch den Kaufprozess geführt – mit beschrifteten Feldern, klaren Buttons und einer logischen Struktur.
Der Hersteller hätte mehrere Hundert Euro mehr Umsatz, eine zufriedene, loyale Kundin und das Wissen, ein Produkt für wirklich alle zugänglich gemacht zu haben. Digitale Barrierefreiheit ist die Brücke, die Unternehmen mit dem unsichtbaren Markt verbindet. Sie ist kein Kostenfaktor, sondern ein Wachstumsmotor – angetrieben von Innovation, Inklusion und intelligentem wirtschaftlichem Handeln. Es ist an der Zeit, diese Brücke zu bauen.
Daniel Ludes Director User Experience
Daniel entwickelt zusammen mit Kund:innen die Vision eines Produkts oder Dienstleistung und fokussiert die User Experience schon in den ersten Entwicklungsphasen.

Facts & Figures
1. 2,2 Milliarden Menschen leben laut WHO mit einer Sehbeeinträchtigung, rund 36 Millionen davon sind blind (Quelle 2).
2. Weltweit verfügen Menschen mit Behinderungen über eine kombinierte Kaufkraft von 13 Billionen US-Dollar (Quelle 9).
3. 60 % der Einzelhändler berichten von erhöhter Kundenloyalität durch Verbesserungen der digitalen Zugänglichkeit.
4. Unternehmen, die Barrierefreiheit priorisieren, berichten von 28 % höheren Umsätzen und 30 % höheren Gewinnmargen (Quelle 10).
5. In Großbritannien beträgt die Kaufkraft von Menschen mit Behinderungen im Internet, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, 24,8 Milliarden Pfund jährlich (Quelle 11.
6. Mehr als 70 % der Nutzer:innen mit Behinderungen verlassen eine Website, wenn sie auf Barrieren stoßen. Dies führt zu erheblichen Umsatzeinbußen (Quelle 11).
Quellen
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